Rauer Asphalt
Das französische Indie-Studio DigixArt (unter Anderem bestehend aus genialen Köpfen hinter Antikriegs-Spielen wie Valiant Hearts) erzählt mit dem narrativen Adventure Road 96 von einer Gruppe Flüchtlingen, welche im Jahre 1996 spielt. Der tyrannische Diktator des fiktiven Staats Petria will sich aller aufmüpfigen Jugendlichen entledigen, da deren Stimmen Gehör bei Wahlen o.ä. finden könnten.
Wir übernehmen die Rolle einer Hand voll junger Menschen, die sich eine Zukunft jenseits Petrias geschlossener Grenzen erhoffen. Auf der namensgebenden Road 96 gilt es die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich mit den richtigen Leuten anzufreunden, um der leuchtenden Zukunft entgegen zu treten.
Das Ganze gestaltet sich als First-Person-Adventure, das uns in Rolle zufallsgenerierter und im Grunde gesichtsloser Personen auf verschiedene prozedural generierte Abschnitte entlang der Route wirft. Hierbei lernen wir bis zu sieben verschiedene Personalitäten kennen, die uns einen Stück weit begleiten können und alle ihre ganz eigenen Geschichten erzählen.
Auf dem Weg zur Grenze gilt es, einem Life is Strange nicht ganz unähnlich, immer wieder knifflige Entscheidungen zu treffen. Das Ergebnis fällt nicht immer unmittelbar gravierend aus; beeinflusst jedoch hin und wieder partiell den Ausgang der anstehenden Wahlen in Petria. So lässt sich das ganze meist in drei Richtungen einstampfen: Offene Rebellion, Demokratie oder Gleichgültigkeit gegenüber des politischen Ausgangs.
Eine erfrischende Reise, …
So werden wir beispielsweise direkt zu Beginn vom einen jungen Nerd aufgegabelt. Unterwegs stellt sich heraus, dass seine Pflegemutter bei der Polizei ist und so finden wir uns spontan in den Ermittlungen über zwei Bankräubern wieder: Wir helfen die Richtigen Worte gegenüber der Mutter am Telefon zu finden, stellen in einem Mini-Spiel die Signale von Überwachungskameras ein und geben zwischendurch unsere Einstellung zur aktuellen politischen Lage wieder.
Das ist nur eine der vielen prozedural generierten Interaktionen mit eben jenen sieben NPCs. Meist fallen die erwähnten Minispiele enorm erfrischend und abwechselnd aus. Ein bunter Genremix aus 4-Gewinnt, Guitar Hero, Murmelspiele und vielem mehr lockern den Roadtrip und die ansonsten omnipräsenten Gespräche mit multiplen Antwortmöglichkeiten auf.
Wenn es um gravierende Entscheidungen mit Einfluss auf Petria geht, helfen entsprechende Symbole leicht zu verstehen, in welche Richtung sich das Ergebnis bewegt. Der Einfluss wird zudem bei jedem Durchlauf in einer vom Staat gesteuerten Nachrichtensendung zu Beginn in Form von Stimmergebnissen gezeigt.
Richtig verstanden: Road 96 wird in mehreren Durchläufen gespielt. Entweder unsere Protagonistin oder Protagonist schafft es über die Grenze, wird aufgehalten oder gar getötet: Ein neuer Durchlauf beginnt auf einem anderen Abschnitt der Route. Das sorgt für einen angenehmen Perspektivenwechsel und verpasst dem Spielerlebnis sogar den Anstrich eines Rogue-Lites.
Währenddessen werden manche der sieben Nichtspieler-Charaktere eingeführt, manchmal sehen wir das Ergebnis der vorangegangenen Interaktion, oft trifft man sie einfach irgendwo wieder. Nach und nach ergibt sich jedoch mehr und mehr das Gesamtbild einer übergreifenden Story-Arc, die sie miteinander verbindet. Und damit ist nicht unbedingt nur die politische Ausgangssituation gemeint; mehr wollen wir hier jedoch nicht vorweg nehmen.
Begleitet wird die Reise von einem tollen und abwechslungsreichen Soundtrack verschiedenster Indie-Bands, der stets wunderbar passt. Auch die generelle Technik lässt nichts zu wünschen übrig; allerdings hatten wir hier und da Lichtfehler in der PC-Fassung, wo zum Beispiel ein Lagerfeuer kein Licht warf. Das schadet dem Gesamtbild allerdings kaum; der Grafikstil ist sehr bunt und doch angenehm. Passt einfach.
… mit einem großen Haken
Road 96 ist ein erfrischendes Abenteuer mit vielen mehrschichtigen Charakteren, die wir auf unserer Flucht zur Grenze treffen. Alle haben ihren ganz eigenen Hintergrund und doch verbindet sie etwas, was sich erst nach und nach heraus kristallisiert. Doch hier steckt auch schon der größte Kritikpunkt:
Road 96 romantisiert die Flucht aus der Diktatur schon fast zu einer abenteuerlichen Reise. In der realen Welt bedeutet eine Diktatur für die Flüchtlinge eine Frage über Leben und Tod. Das Ergebnis der Anstrengungen könnte nicht gewichtiger sein und wir alle wissen um das Elend, das viel zu viele Menschen wahrlich grausam durchleben müssen. Nicht jeder darf Wählen gehen und seiner Stimme in der echten Welt Gehör schenken. Nicht jeder darf seine Meinung kund tun, ohne um sein Leben zu fürchten.
In dem Spiel scheint man auf den ersten Blick zwar einfach das beste aus der Situation zu machen und irgendwie sind hier sehr viele der sieben Charaktere einfach karitativ optimistisch überzeichnet; doch wenn einer der Spieler-Flüchtigen dann doch plötzlich aufgrund einer dumm getroffenen Entscheidung sein Zeitliches segnet, wird man unverhofft an die Realität erinnert.
Road 96 spricht viele wichtige Themen an: Geht Wählen! Nehmt nicht alles einfach hin! Tut etwas und nehmt euer Schicksal in die Hand! Jedoch wird der Beigeschmack, dass auf der anderen Seite jeder Entscheidung im echten Leben auch Leid und Verlust stehen kann, von dem amüsanten, überdrehten Ton der Geschichte viel zu stark überspielt. Essentielle Fragen, etwa ob man hinter der Grenze Arbeit findet, sich in die kulturellen Umstände eingliedern schafft oder gar seine Familie je wiedersehen wird, fallen hier einfach unter den Tisch.
Diesen Umstand sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man den nächsten Durchlauf dieser ansonsten sehr unterhaltsamen und spannenden Reise antritt. Obdachlosigkeit, Flucht und Tyrannei steckt niemand so leicht weg. Doch auch Road 96 dreht sich nicht nur um diese Themen, denn der Weg ist auch hier viel mehr das Ziel und sorgt so dennoch für ein denkwürdiges Abenteuer mit dem einen oder anderen Twist.