Auf nach Südböhmen!
Das Böhmen des Jahres 1403, das heute etwa das Gebiet nahe und rund um Prag darstellt, war eine ruhige und friedliche Zeit gewohnt: Der hiesige Herrscher über das böhmische Königreich verstarb, was seiner ruhigen Regierungszeit ein ende setzte und seinen Sohn Wenzel den IV. zum König machte. Dieser frönte lieber anderweitiger Aktivitäten, was seinen habgierigen Bruder Sigismund – angespornt von der wütenden Elite – auf den Plan rief.
Nachdem dieser seinen faulen Bruder entführte und so die Macht an sich riss, begann eine unerwartete, vermeintlich von ihm angezettelte Invasion: Jeder der sich nicht beugen wollte, würde brennen. So auch das kleine Dorf in dem der Hauptdarsteller des Spiels, Heinrich, lebt.
Heinrich ist der junge Sohn eines Schmieds im böhmischen Dorf Skalitz. Zu Beginn der Geschichte sollte er noch Besorgungen für seine liebenden Eltern unternehmen, seinen jugendlichen Leichtsinn im Heimatdorf austoben und der Liebe seines Lebens einen Besuch abstatten. Im Zuge der Unternehmungen lernen wir die Spielmechaniken, Grundlagen sowie das Leben im Mittelalter genauer kennen.
Ehe wir uns jedoch versehen, wurde Skalitz von der Armee Sigismunds überrascht und alle, die nicht flüchten konnten, fielen unschuldig der Klinge zum Opfer. Da Heinrich das, von seinem Vater für den Skalitzer Lehensherrn frisch geschmiedete, Schwert bei sich hatte wollte er eingreifen – doch sah so lediglich mit an, wie seine Eltern regelrecht geschlachtet wurden. Es gab nur eine Möglichkeit: Die Flucht zur nächsten Siedlung und Meldung an den Burgherren. Dass Heinrich auf viel mehr aus ist – allen voran Rache – stellt sich jedoch schnell heraus und läutet so die nächsten Kapitel des Spieles ein.
Des Schusters Rappen
Als klassisches Rollenspiel gilt es, neben dem Rachefeldzugs Heinrichs mitunter die (zusätzliche!) Haupthandlung voran zu treiben, sich den Sorgen der Bewohner der große Spielwelt zu widmen und letztere ausgiebig zu erkunden. Oder einfach nur darum, im detaillierten Wald die atemberaubende Atmosphäre zu genießen und illegal Hasen zu jagen. Wie von ähnlichen Spielen des Genres gewohnt, bleibt die Wahl der Aktivitäten im Gros uns überlassen und nimmt uns gerade in diesem Spiel dabei erstaunlich wenig bei der Hand.
Kingdom Come: Deliverance besticht ab der ersten Minute mit einer Tiefe, die man in heutigen Rollenspielen oftmals lange sucht: Die Spielwelt atmet und lebt, durchläuft einen sauberen Tag- und Nachtrythmus und lässt die argwöhnischen Böhmer realistisch auf die Taten und Aussagen des Spielers reagieren. Dementsprechend wollen die Entscheidungen unseres Protagonisten durchaus überdacht werden: Fraktionen per se gibt es in Kingdom Come: Deliverance nicht, nur Ortschaften mit den anliegenden Familien und Lehen. Entsprechend Einfluss nimmt unser Verhalten und sorgt so im Spielalltag für Verbündete, Feinde und etwas dazwischen.
Die Spielwelt umfasst etwa 16x16km und ist von Hand von den Künstlern bei Warhorse Studios gestaltet, mit Geheimnissen und malerischen Ausblicken gespickt und anhand historischer Überlieferungen sowie heutiger Lage geformt worden. Das spüren wir beim Spielen auch an jeder Ecke: Kein Ritt durch den Wald ohne „Oh Wow!“-Momente wenn die Sonne durch das Gestrüpp scheint, keine Fußmarsch ohne Innehalten wenn die malerischen Felder und Dörfer in der Ferne aus einem Gemälde stammen könnten. Die verwendete CryEngine kann in Kingdom Come: Deliverance wahrlich ihre Stärke beweisen – obgleich nicht ohne Abstriche, wie das nächste Kapitel genauer beleuchten wird.
Neben wie gewohnt besonders detailliert inszenierten Szenen und Quests aus dem Hauptstrang wartet das Spiel mit immenser Tiefe auf uns: Ein gemütliches Würfelspiel in der Schenke bei Sonnenuntergang, gelegentliche Prügeleien mit Trunkenbolden, das Messen mit dem Bogen bei einem Wettbewerb und vieles, vieles mehr lassen sich quasi am Wegesrand entdecken und bei eigenem Pacing erleben. Wer sich lieber weiter mit der Natur beschäftigen möchte, kann alle möglichen Kräuter sammeln, im Herbarium genauer studieren und am Alchemietisch experimentieren um nützliche Tränke zu brauen. All dies gepaart mit cineastischen ingame Cutscenes und einer hervorragenden, deutschen Synchronisation verspricht viele Stunden Unterhaltung auf qualitativ hohem Niveau.
Düsteres, düsteres Mittelalter
Im Mittelalter lebte es sich keineswegs leicht: Banditen hausierten in Wäldern, gelegentlich brach die Pest aus und generell sind Krankheiten und Wunden ein derartiger Bestandteil des Alltages, dass das das Höchstalter im Schnitt bei 35-40 Jahren lag. Das bekommt auch Heinrich auf seiner Reise durch das Spiel zu spüren; was in Kombination mit zusätzlichen Survival-Features ein spannendes Gemisch ergeben: Er bekommt Hunger, muss sich waschen damit auf NPCs er nicht abstoßend wirkt und benötigt sogar Schlaf. Hierbei unterscheiden sich sogar die Art des Schlafs, was wir essen, in welchem Zustand sich das Essen befindet, etc. Auch Alkohol, Gifte und Co haben ihre entsprechende Wirkung auf den Spieler, als auch alle NPCs. Survival in seiner reinsten Form – in einem klassischen Rollenspiel: Genial!
Hier befindet sich augenscheinlich jedoch schon für manche Spieler der Haken: Um zu speichern reicht nicht etwa ein herkömmlicher Ausflug in das Pausenmenü. Um den Fortschritt der aktuellen Sitzung festzuhalten, muss entweder eine ordentliche Mütze Schlaf her – oder Heinrich darf einen Schluck vom sogenannten Retterschnaps nehmen. Wie der Name bereits verrät, ist das Gebräu eine Geisel für jeden Alkoholiker. Mag nicht nach einem großen Problem klingen; doch neben der eigentlichen Alkoholisierung ist Retterschnaps zu Beginn schwer zu bekommen und nicht günstig. Für viele ein KO-Kriterium, jedoch kann der Schnaps durch Schlaf in einem gemieteten oder dem eigenen Bett umgangen werden.
Der Alkohol und auch Zustände wie etwa Hunger haben mitnichten Einfluss auf Heinrichs Statuswerte, welche wiederum Einfluss auf Kämpfe und Gespräche haben. Bei Letzteren haben wir durch entsprechende Werte viel Einfluss auf Antworten und die Reaktionen der NPCs, sofern dieser nicht höhere Werte mit sich bringt. Da sich jedoch jeder NPC sein eigenes Bild vom Protagonisten macht und das Dorfleben schon damals durch Mundpropaganda geprägt war, will jedes gewichtige Gespräch wohlüberlegt sein. Wenn der Sohn des Skalitzer Schmieds hierbei jedoch obendrein noch nach einem Schweinestall stinkt und auch so aussieht, dürfte der Gesprächsverlauf durchaus vorhersehbar sein.
Nach und nach entwickeln wir ein Gefühl für den Alltag im mittelalterlichen Böhmen und achten genau auf die Bedürfnisse unseres Recken. Dieses Micromanagement gepaart mit der enorm detaillierten Spielwelt sorgen für eine unglaubliche Sogwirkung, die wir mangels Monster und Mythen beinahe nicht erwartet hätten. Wenn dann noch niedrig hängende Äste den Spieler vom Pferd schlagen, Blut nach Kämpfen die Waffen benetzen und unsere Außenwirkung in Gesprächen beeinflussen, klappt gerne mal die Kinnlade herab. Kommt nun noch die spannende Handlung rund um Rache und geschehener Weltgeschichte hinzu, kann sich das Spiel leicht mit einem gewissen Hexer von Riva messen.
Kettenrasseln der Technik
Zu einem Spiel mit solch einem Umfang könnte nichts besser passen, als ein ebenso umfangreiches System für Kampf, Ausrüstung und Fähigkeiten. Ungleich vieler Genrevertreter auf dem Markt, bedient sich Kingdom Come: Deliverance keiner simplen Hack and Slay Mechanik beim Kampf gegen Feinde: Ein Ziel-Stern erscheint beim Anvisieren der Gegner und stellt die Hieb und Schwungrichtung unserer Arme dar. Zum Kontern von Angriffen müssen die Bewegungen des Gegenübers beobachtet und aus der entsprechend selben Richtung … nun ja,.. gekontert werden. Klingt leichter als sich in der Praxis herausstellen soll – doch sobald dieses Element gemeistert wird, entsteht ein befriedigender Flow, der hiesige Banditen das Fürchten lehren wird.
Heinrich erlernt neue Fähigkeiten entweder durch das Lesen von Büchern (sofern er lesen lernt; was dem gemeinen Volk damals zumeist vorenthalten blieb) oder das verbessern schon bekannter Kenntnisse. Alles, was wir nach und nach können, verdanken wir der nötigen Kontinuität: Wo wir zu Beginn mit dem Bogen mangels ruhiger Hände und eines Fadenkreuzes etwa drei Dutzend Pfeile verschießen, bevor der Hase im Gras liegt, kann sich nach etwa eben so viel Spielzeit und Übung kein Wildschwein mehr ins Unterholz flüchten.
Auch die Ausrüstung will durchdacht sein: Ganze sechszehn Item-Schichten stellen die Ausrüstung Heinrichs dar. Neben Beinschienen, metallene Schulterplatten und mehr, darf auch das Stück Stoff darunter nicht fehlen. All dies entscheidet in Kombination überdies über das Bild, welches wir bei hiesigen Bürgern abgeben; denn nicht immer ist Ihnen das Gesicht hinter dem Stahl-Helm bekannt. Oder? Sollte man meinen; doch schon hier beginnt der Wahnsinn der Komplexität, mit der die CryEngine zu kämpfen hat. Ab einem gewissen Punkt scheint wahrlich jeder Heinrich zu kennen und unser Protagonist wird in Städten und Dörfern buchstäblich von jedem NPC freundlich gegrüßt. Auch bleibt unser geliebtes Pferd gut und gerne mal irgendwo hängen und kann kaum über Büsche springen. Leider geht auf diese Weise ziemlich schnell die zuvor so sauber aufgebaute Immersion flöten.
Meckern auf hohem Niveau, so lassen sich dieser und viele andere Makel (wie etwa das wirklich geniale, für viele jedoch umständliche Speichersystem) zwar mit Mods auf dem PC ändern – doch gerade Konsolenspieler dürften zu Beginn mit dem Spieler schnell überfordert sein. Rein technische Belange lassen sich natürlich auch auf dem PC nicht so einfach „fixen“: In Gesprächen fallen schnell fehlende Augenbewegungen auf, zig Abstürze, Gespräche, die sich wiederholen und ganz besonders die teilweise miese Ton-Abmischung in Zwischensequenzen fallen gemein ins Gewicht.
Der kommende Patch verspricht deutliche Besserung – nicht zuletzt wegen eines versprochenen, neuen Speichersystems – doch ob alle grobschlächtigen Schmitzer der CryEngine ausgeräumt werden können, bleibt abzuwarten.